Zum Abendessen saßen wir das erste Mal an diesem Tag beieinander, Susi, Mirko, Klaus, Jürgen, Hubert und ich. Es gab Suppe, dann Fleisch mit Nudel und Salat danach Creme Caramel, und dann waren wir satt. Schon ein Jahr zuvor wollten wir an die Engelhörner zum Klettern, steil und wirr aufragende Kalkzähne, südöstlich vom Eiger. Aber damals hatte uns ein Anruf der Hüttenwirtin: „Wir haben 15 Zentimeter Schnee, fahrt doch auf die Alpensüdseite“ im letzten Moment an den Lago Maggiore umgeleitet. Da war es auch schön, aber nicht wirklich alpin. Jetzt saßen wir also im kleinen Gastraum der Engelhornhütte an den neuen mächtigen Holztischen und beratschlagten über die nächsten Tage.

Von Samstag bis Dienstag hatten wir Zeit und tatsächlich einigermaßen stabiles Wetter für Routen an Bergen mit so bildhaften Namen wie Rosenlauistock, Vorderspitze oder Wellhorn. Steil aufragender Kalk, der labyrinthisch anmutende Rinnen, Schluchten und schroffe Täler umsteht. Heute hatten wir uns schon darin verirrt, hatten lange gebraucht um den Großen Simeli zu finden, die Einstiege zur Südwestkante und zu Silberfinger, Klassiker der alpinen Sportkletterei. Morgen wollten wir, je nach Wetter, wieder tief eindringen ins Labyrinth oder nahe der Hütte am Rosenlauistock oder dem Kleinen Simeli zum Klettern gehen. Nach einer unruhig verbrachten Nacht gab es zum Frühstück Bircher Müsli - wir waren schließlich in der Schweiz - und löslichen Cafe auf Zucchinibasis, beide mit etwa dem gleichen Fruchtgehalt von 51%.

Vegetarisch gestärkt brachen wir auf in den dunstigen Morgen und eilten zu den Einstiegen. Susi und Mirko wollten zum Rosenlauistock. Jürgen, Klaus, Hubert und ich hatten uns für die Route Gagelfänger am Kleinen Simeli entschieden. Plattiger Kalk, der sich zunehmend aufsteilt und überhängend auf den Gipfelgrad mündet. 15 Seillängen fester, steiler Fels – ein Traum. Nach den Einstiegsseillängen stiegen vom Tal Wolkenfetzen auf, die schnell für eisige Finger sorgten und unsere Kletterei in ein mystisches Licht tauchten. Am Gipfelgrad angekommen trieb uns der eisige Ostwind über ausgesetzte Abseilfahrten zurück zum Wandfuß. Ein Gutes hatte der Wind, der Himmel klarte auf, das Wetter schien besser zu werden. Zuversichtlich stolperten wir die Schroffen zurück Richtung Hütte und freuten uns auf unser abendliches Bier. Klaus und Jürgen saßen schon auf der Terrasse, sie waren vor Hubert und mir abgeseilt, zwei fehlten jetzt noch: Susi und Mirko. Auf unser Fragen hin bekamen wir ein Fernglas in die Hand gedrückt und Jürgen wies Richtung Ausstiegsverschneidung am Rosenlauistock. Eine einsame Expressschlinge hatte die Beiden in einen Verhauer gelockt, aus dem sie gekonnt mit den raffiniertesten Seilmanövern des verehrten Herrn Dülfer flüchteten. Ein Karabineropfer, verbunden mit der Bitte um ein sicheres Gelingen des Rückzugs und ein wenig Improvisation brachte die Beiden zurück an den Wandfuß. So saßen wir auch am zweiten Abend glücklich und müde zum Abendessen beieinander und beratschlagten über den nächsten Tag. Wir wollten weiter in das Labyrinth vordringen und an der Vorderspitze, des markantesten Gipfels über dem Ochsental, „Nebel und Chämbä“ klettern. Mikro und Susi wollten in der Gegend bleiben, die sie heute so sorgfältig erkundet hatten.

Nach einer weiteren unruhig verbrachten Nacht und dem schon vertrauten Frühstück verließen wir früh die Hütte. Das weite Tal von Meiringen war bis in das höher liegende Rosenlaui hinein mit Wolken gefüllt. Darüber lagen prall und grün die Almen. Das Klingen der Kuhglocken unterstrich die Klarheit der Luft. Die spitzen Engelhörner ragten in den leuchtend blauen Himmel. Wir hatten wirklich Glück, alles war gut. Und so schnauften und keuchten wir wieder einmal durch das Ochsental hinauf Richtung Einstieg. Nach einigem Fluchen hatten wir auch die Zustiegsrinne überwunden und eilten über die Schroffen, die sich bis hinauf zum Einstieg erstreckten. Wir mussten wieder lange nach dem Einstieg suchen, und erst Jürgens vorwurfsvoller Ruf: „Da ist er doch, unser Einstieg“, gab uns die erhoffte Sicherheit richtig zu sein. Der Einstieg lag an der schattigsten Stelle, tief im Grund einer Rinne, eisiger Wind pfiff vom Vorbau herab. Nach den ersten splittrigen Seillängen beschlossen Hubert und ich lieber in der Sonne zu klettern und wir seilten ab. Jürgen und Klaus stiegen weiter durch „Nebel und Chämbä“ Richtung Gipfel. Am Wandfuß angekommen querten wir wieder das weite Schroffenfeld, groß wie 7 Fußballfelder und gut 35 Grad steil, Richtung Groß Simeli. Wir wollten Doc 21 klettern, 12 Seillängen verdonhafter Fels, der in den blauen Himmel strahlte. Wir konnten zum ersten Mal mit T-Shirt und hochgekrempelten Hosen klettern. Es machte Spaß die Seillängen abzuspulen, und so standen wir, schneller als gedacht, auf dem tischgroßen Gipfel des Großen Simeli. Klitzeklein konnten wir Jürgen und Klaus auf der mächtigen Vorderspitze erkennen. Gegenüber auf der anderen Seite des Ochsentals standen Rosenlauistock und Kingspitze, vor dem reinweißen Rosenlauigletscher und dahinter das Große Wellhorn. Eine tief beeindruckende Kulisse. Wir beobachteten eine Weile den Abstieg der beiden von der Vorderspitze, seilten dann ab und schlossen uns ihnen an. Gemeinsam stolperten wir zurück über die 7 Fußballfelder loser Steine und nasser Graßbüschel, seilten durch die Zustiegsrinne ab und standen müde und glücklich wieder im Ochsental. Wir kamen gerade noch rechtzeitig zum Abendessen und beendeten auch dieses kleine Abenteuer mit einem vollen Magen und müden Knochen.

Unsere gemeinsame Zeit an den Engelhörnern war abgelaufen, morgen früh würden wir am Rosenlauistock und dem Rosenlauigletscher vorbei absteigen ins Rosenlauital hinunter und zurückfahren in die Rheinebene. So hatten wir alle viel erfahren: dass es an kalten Tagen erstaunlich heiß werden konnte, dass man gefundene Expressschlingen besser hängen lässt und das man sich über das Runter genau soviel Gedanken machen muss wie über das Rauf. Viel zu fern schien uns unsere nächste Kletterei in den Alpen.