Ohne Holz kein warmes Essen auf der Wormser Hütte. Es ist kein Aprilscherz zu unpassender Zeit. Nein, es war die harte Wirklichkeit. Wir schreiben September 1941. Der grausame Krieg, den wir den 2. Weltkrieg nennen, wütete bereits zwei Jahre. Am 1. September 1941 feierten meine Eltern Silberne Hochzeit. Als sie 1916, mitten im 1. Weltkrieg heirateten, war an eine Hochzeitsreise nicht zu denken. Mein Vater war Soldat. Nun wurde sie nachgeholt. Der Jüngste von 6 Söhnen, ich war damals 10 Jahre alt, durfte mitfahren. Unser Ziel war das Montafon.

Das Reisen war seinerzeit nicht so einfach wie heute. Es waren rd. 800 km zurückzulegen. Als Verkehrsmittel für den normalen Menschen gab es nur die gute alte Eisenbahn, D-Zug 3. Klasse mit Holzbänken. Um Zeit und Geld zu sparen, bevorzugten wir Nachtzüge. Durchgehende Züge von Osnabrück (meine damalige Heimatstadt) nach Bludenz gab es nicht. Wir mussten einige Male umsteigen. Die Fahrzeit war im Vergleich zu den heutigen ICE-Zügen unendlich lang. Die Strapazen des Sitzens und Liegens auf den Holzbänken waren fast unerträglich. Deshalb unterbrachen wir die Fahrt für einen Tag und besichtigten das Schloss mit dem Großen Fass in Heidelberg. Am 7. September 1941 erreichten wir schließlich Bludenz und vertrauten uns dem Montafoner Bähnle an, das uns in gemächlichem Tempo ans Ziel bringen sollte. Irgendwo in den Wiesen bei Vandans fuhr es nur noch Schrittgeschwindigkeit. Die Ursache hierfür zu ergründen, schauten wir aus dem Fenster. Wir sahen eine Frau aus einem Haus kommen und dem Zug entgegen eilen mit einem Päckchen in der Hand, das sie dem Lokomotivführer in den Führerstand reichte. Es war offenbar seine Brotzeit. Sofort ging es schneller weiter und nach wenigen Minuten hatten wir Schruns erreicht.

Es war ein erhebender Anblick für mich. Dieses Bergpanorama, vor mir der Bahnhof Schruns und ganz oben, gerade noch erkennbar, die Wormser Hütte, die in den nächsten Tagen das Ziel meiner ersten großen Bergtour werden soll. Ich stand das erste Mal vor hohen Bergen. In meiner damaligen Heimat war der höchste Berg kaum höher als 100 m. Von den Alpen hatte ich nur von den Erzählungen meines Vaters und im Erdkundeunterricht etwas erfahren. Fernsehen gab’s noch nicht. Nun stand ich vor dem faszinierenden Panorama.

Ein angemessenes Quartier hatten wir schnell gefunden. Es war ein Privatquartier mit der Anschrift: Im Feld 167. Ich habe das Haus nie wieder aufgesucht. Es war schon damals nicht in bestem Zustand, so dass es heute wohl nicht mehr existiert. Ich vermute, dass es dort stand, wo heute die Straße „Feldweg“ verläuft. Unsere Gastgeber waren offenbar nicht mit Reichtümern gesegnet, doch sie besaßen eine Kuh, die täglich die Frischmilch lieferte. Sie weidete am Wegesrand, fraß aber nur, wenn der Besitzer neben ihr stand und sie am Strick hielt.

Meine Erinnerungen an meine ersten Bergerlebnisse sind im Laufe von 70 Jahren stark verblasst. Die wenigen Fragmente stützen sich im Wesentlichen auf wenige Dokumente von damals. Eine Fotokamera besaßen wir nicht. Doch die Fahrkarten der Montafoner Bahn mit eingestanztem Datum besitze ich noch. Mein Vater schrieb jeden zweiten Tag eine Ansichtskarte an einen seiner Söhne, die bereits beim Militär waren. Sie haben die Karten sorgfältig aufgehoben und über den Krieg gerettet. Sie sind heute in meinem Besitz. So weiß ich, dass wir uns am 11. September auf den Weg zur Wormser Hütte begeben haben. Eine Seilbahn gab es noch nicht. Wir mussten zu Fuß von Schruns (690 m) zur Hütte (2305 m) aufsteigen. Wir dürften etwa 6 Stunden gebraucht haben. An der Waldgrenze an der Kapellalpe angekommen, stehen wir plötzlich vor einem Holzstapel, auf dem sich ein Schild befand mit der Aufschrift „Ohne Holz kein warmes Essen auf der Wormser Hütte“. Für eine warme Suppe auf der Hütte hätten wir also ein Holzscheit schultern und rd. 400 m hoch schleppen müssen. Doch mein Vater hatte vorgesorgt. Wir hatten genügend Proviant im Rucksack. Nach einer kurzen Rast stiegen wir weiter. Der Weg war mit Holzscheiten gesäumt, die den Wanderern zu schwer geworden waren. Wir verzichteten auf die warme Suppe, stiegen ein paar Meter weiter auf das Kreuzjoch und verzehrten genüsslich unsere Butterstullen in 2398 m Höhe mit dem prächtigen Panoramablick, insbesondere auf die Vandanser Steinwand. Es war für mich ein so prägendes Erlebnis, das es mich immer wieder an diesen Ort zurückzog. Die Bitte des damaligen Hüttenwirtes, Holz auf die Hütte mitzunehmen, war eine Folge des Krieges. Die als Träger geeigneten, rüstigen Männer im besten Alter waren Soldat. Auf dem Rückweg, kurz vor Schruns, es wurde schon dunkel, begegnete uns ein nicht mehr junger Träger mit einer 20 l-Kanne Petroleum auf dem Rücken für das Licht auf der Wormser Hütte. Auf die Frage warum er so spät aufsteige, antwortete er: Bei Nacht brennt die Sonne nicht so heiß. Stattdessen brannte der Alkohol in seinem Inneren; das spürte man.

Am nächsten Tag hieß es Abschied nehmen vom Montafon. Über Innsbruck und München ging es im D-Zug 3. Klasse wieder zurück in den Alltag des Krieges. Doch das Montafon und die Wormser Hütte blieben unauslöschlich in allerbester Erinnerung und bis heute 70 Jahre lang oft besucht. Der sich hinziehende Krieg, die Schule, die Lehrzeit, das Studium und das fehlende Geld nach der Währungsreform hinderten mich an einen weiteren Besuch des Montafons. Erst im Jahre 1957 kehrte ich erstmals, inzwischen verheiratet, wieder zurück. Der Aufstieg zur Wormser Hütte wurde durch den inzwischen bis zur Kapellalpe errichteten Sessellift wesentlich bequemer. Damit zu fahren war ein Hochgenuss. 45 Minuten lang genoss man das Panorama, das sich mit zunehmender Höhe grandios erweiterte. Nach mehreren Jahren Montafonurlaub in Partenen mit häufigen Besuchen der Wormser Hütte folgte 1961 die erste Hüttentour im Verwall. Offenbar waren wir (meine Frau und ich) etwas zu früh an der Wormser Hütte angekommen. Wir standen vor verschlossener Tür. Zwei Mulis weideten in Hüttennähe. Tagesgäste kamen seinerzeit nicht viele. Immerhin musste man die Strecke von der Kapellalpe bis zur Hütte noch zu Fuß zurücklegen. Auch die Zahl der Übernachtungsgäste hielt sich in Grenzen. Schließlich liegt die Wormser Hütte nicht in der Mitte eines Höhenwegenetzes, sondern am Ende. Der hier beginnende 20 km lange Wormser Höhenweg mag viele Bergwanderer abschrecken. Der Bergfreund, der ihn einmal gegangen ist und ihn mit anderen Wegen vergleichen kann, wird mir beipflichten, dass es einer der eindrucksvollsten Wege in den ganzen Ostalpen ist. Er ist nicht schwierig aber sehr, sehr lang und bietet exzellente Ausblicke. Der Hüttenwirt sorgte für einen frühen Aufbruch. Um 5 Uhr wurden wir geweckt. 1978 sind wir den Weg noch einmal mit unseren, damals 15 und 13 Jahre alten Kindern, gegangen. Es war grandios.

Wer einmal das Verwall genossen hat, kommt immer wieder. Wir haben im Laufe von 70 Jahren fast alle Bergketten der Ostalpen von Hütte zu Hütte mit mehr als 220 Übernachtungen in 100 AV-Hütten erwandert (heute nennt man es wohl Trekking) und die am Wege liegenden, machbaren Gipfel erklommen. Das Verwall haben wir wiederholt durchwandert. Es ist eine der seltenen Bergketten, die man auf verschiedenen, besonders reizvollen Wegen hin und zurück durchwandern kann. Ich empfehle: Wormser Hütte – Neue Heilbronner Hütte – Gaisspitze (2779 m) – Friedrichshafener Hütte – Rautejöchle (2752 m) - Darmstädter Hütte – Saumspitze (3039 m) – Kieler Wetterhütte (2809 m) – Niederelbehütte - Kreuzjochspitze (2910 m) – Edmund-Graf-Haus – Hoher Riffler (3168 m) – Niederelbehütte – Seßladjoch (2749 m) – Darmstädter Hütte – Scheibler (2978 m) – Konstanzer Hütte – Wannenjöchle (2766 m)– Neue Heilbronnen Hütte – Abstieg nach Partenen. Es sind unvergessliche Erlebnisse, Die Zeit der Hüttentouren ist für uns inzwischen abgelaufen. Zum Abschluß haben wir uns mit 78 Jahren noch eine vom Summitclub angebotene Trekkingtour im Himalaja gegönnt.

Jetzt im Alter genießen wir das Montafon mit all’ seinen Facetten und Gipfeln ringsumher. Wir fahren genüsslich mit der Kabinenbahn und dem Sessellift hinauf zum Sennigrat und erreichen in wenigen Minuten Gehzeit die Wormser Hütte. Dabei gilt es, den Andrang an der Talstation und den Massenbetrieb bei der Wormser Hütte bei gutem Wetter zu verschmerzen. Wir finden dort oben immer ein ruhiges Plätzchen; und wenn es im Kneippbecken hinter der Hütte ist. Luxus pur in den Bergen. Welch einen Wandel haben wir in 70 Jahren Bergsteigen erleben dürfen.